In einer weiten, stillen Lagune lebte ein kleiner Wassertropfen. Aber dieser Tropfen war kein gewöhnlicher Tropfen – er war ein echter Denker. Ständig grübelte er: „Wer bin ich eigentlich?“ und „Warum bin ich überhaupt hier?“ Er liebte es, sich in der spiegelglatten Wasseroberfläche zu betrachten und dachte stolz: „Ich bin ich, weil ich denken kann. Das macht mich besonders!“
Eines Tages kam ein sanfter Wind auf und zog kleine Wellen über die Lagune. Mit den Wellen kam auch eine Stimme, tief und ruhig – es war der alte, weise Wellenkräusel. Der hatte schon alles gesehen: Regen, Stürme, sogar Eiskristalle.
„Hey, kleiner Tropfen,“ begann der Wellenkräusel gemütlich, „hast du jemals von der Strömung gehört?“
„Die Strömung?“ Der Tropfen guckte verdutzt. „Nein, ich denke selbst! Was hat das mit mir zu tun?“
Der Wellenkräusel lachte leise. „Ach, glaubst du wirklich, du denkst selbst? Vielleicht geschieht das Denken einfach – so wie die Strömung, die alle Tropfen bewegt. Denk mal drüber nach.“
Der kleine Tropfen runzelte die Stirn. „Aber ich sehe doch mein Spiegelbild. Ich fühle mich wie jemand Eigenes. Ich denke, also bin ich, oder nicht?“
Der Wellenkräusel schmunzelte. „Weißt du was? Schließ doch mal die Augen und hör einfach nur hin.“
Der Tropfen zögerte kurz, tat es dann aber. Zuerst war da nur Stille. Doch dann merkte er etwas – ein sanftes Ziehen, ein Fluss, der ihn mitnahm. Es war, als würden die Gedanken nicht von ihm kommen, sondern wie Wellen durch ihn hindurchfließen. Er verstand: Die Strömung trug ihn, genauso wie alle anderen Tropfen. Sein Denken war kein eigenes Werk – es geschah einfach.
„Jetzt kapierst du es, oder?“ sagte der Wellenkräusel mit einem Augenzwinkern. „Du bist nicht der Denker, kleiner Tropfen. Es wird gedacht. Die Strömung bringt die Gedanken, und du bist nur ein Teil des Ganzen.“
Der kleine Tropfen öffnete die Augen. Zum ersten Mal sah er sich nicht mehr als Einzelgänger. Er spürte, wie er mit allen Tropfen verbunden war, wie sie zusammen die Lagune bildeten – getragen von der unsichtbaren Strömung.
Von da an fragte der Tropfen nicht mehr: „Wer bin ich?“ Stattdessen fragte er: „Was fließt gerade durch mich?“
Und so lebte er glücklich, nicht mehr gefangen in der Illusion, ein getrenntes Ich zu sein, sondern als Teil der großen Strömung des Lebens.