Wir sind von Programmen gesteuert – Wie unser Denken und Handeln geprägt wird

Lesedauer: 7 Minuten

Unser Verhalten, unsere Entscheidungen und sogar unsere Emotionen werden oft von unbewussten „Programmen“ gelenkt – tief verankerten Mustern, die wir im Laufe unseres Lebens entwickeln. Diese Programme, die aus frühen Erfahrungen, sozialen Einflüssen und biologischen Prozessen entstehen, beeinflussen maßgeblich, wie wir die Welt wahrnehmen und auf sie reagieren. Doch was genau sind diese Programme? Wie entstehen sie? Und wie können wir sie verändern, wenn sie uns nicht länger dienen?

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Wir sind von Programmen gesteuert – Wie unser Denken und Handeln geprägt wird
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Die Entstehung von Programmen – Schutzmechanismen aus der Kindheit

Programme sind wie mentale Software, die unser Gehirn entwickelt, um das Leben effizient zu bewältigen. Besonders in der Kindheit entstehen viele dieser Muster, weil unser Gehirn in dieser Phase unglaublich formbar ist. Wir nehmen unsere Umwelt intensiv wahr und speichern wiederkehrende Erfahrungen und Aussagen als Leitlinien ab.

Ein Beispiel: Ein Kind, das häufig hört „Du bist zu klein dafür“ oder „Das kannst du nicht“, verinnerlicht diese Aussagen als Realität. Solche Botschaften können in der Kindheit sinnvoll sein, etwa um vor Gefahren zu schützen. In einer evolutionären Perspektive waren schnelle Entscheidungen oft überlebenswichtig. Die Fähigkeit, Gefahren schnell zu erkennen und darauf zu reagieren, beruhte auf der Speicherung früherer Erfahrungen. Ein Mensch, der z. B. einmal von einem Raubtier angegriffen wurde, konnte durch die Erinnerung an die Situation zukünftige Bedrohungen früher wahrnehmen und so schneller handeln. Diese Programme waren also essenziell, um das Überleben zu sichern.

Wo wirken diese Programme im Gehirn? Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass sie vor allem in der Amygdala, einem Bereich des limbischen Systems, verankert sind. Die Amygdala ist für die Verarbeitung von Emotionen und die schnelle Einschätzung von Bedrohungen verantwortlich. Gleichzeitig spielen der Hippocampus, der Erinnerungen organisiert, und der Präfrontale Cortex, der für bewusste Entscheidungen zuständig ist, eine zentrale Rolle. In der Kindheit prägen sich emotionale Erfahrungen besonders stark ein, da die Amygdala in dieser Phase besonders aktiv ist, während der Präfrontale Cortex, der rationale Bewertungsprozesse steuert, noch nicht voll entwickelt ist. Dadurch können Programme tief verankert werden und auch später automatisch ablaufen.

Doch wenn diese Programme zu tief verankerten Glaubenssätzen werden, wirken sie oft noch im Erwachsenenalter, wo sie keine Schutzfunktion mehr haben, sondern blockierend wirken. Der Glaubenssatz „Ich bin nicht fähig“ kann so zu einem inneren Hindernis werden, das Chancen verhindert und Selbstzweifel fördert. Sigmund Freud sah solche Muster als Teil des Unbewussten, die durch wiederholte Erfahrungen geprägt werden und im Erwachsenenalter weiterhin wirken, ohne dass wir uns ihrer bewusst sind. Carl Gustav Jung betonte, dass diese tiefen Prägungen in unserem „kollektiven Unbewussten“ wurzeln können und dass es durch Selbstreflexion und Bewusstwerdung möglich ist, sie zu transformieren. Vera F. Birkenbihl wiederum wies darauf hin, wie wichtig es ist, Glaubenssätze aktiv zu hinterfragen und durch neue, konstruktive Denkmuster zu ersetzen, um unser Potenzial voll zu entfalten. Philosophisch betrachtet weist Friedrich Nietzsche darauf hin, dass der Mensch durch die „ewige Wiederkehr des Gleichen“ Gefahr läuft, in Mustern gefangen zu bleiben, bis er sich bewusst entscheidet, den „Willen zur Macht“ zu entfalten und neue Werte zu schaffen. Jean-Paul Sartre unterstreicht, dass der Mensch dazu verdammt ist, frei zu sein – und somit auch die Freiheit besitzt, sich von hinderlichen Programmen zu lösen und sein Sein aktiv zu gestalten. Diese philosophischen Ansätze eröffnen eine weitere Dimension der Selbstreflexion, indem sie die Verantwortung und Freiheit des Individuums in den Vordergrund stellen.

Wie Programme unser Denken und Handeln steuern

Programme wirken subtil und oft automatisch. Sie beeinflussen nicht nur unsere Entscheidungen, sondern auch unsere Wahrnehmung und Interpretation von Situationen:

  • Emotionale Reaktionen: Alte Glaubenssätze wie „Das schaffst du nie“ können Angst oder Resignation auslösen, selbst wenn niemand sie mehr aktiv äußert.
  • Vermeidungsverhalten: Wir scheuen Herausforderungen, weil innere Programme uns suggerieren, dass wir nicht gut genug sind.
  • Selbstsabotage: Unbewusste Muster hindern uns daran, mutige Schritte zu gehen, selbst wenn wir die Voraussetzungen für Erfolg besitzen.
  • Selektive Wahrnehmung: Ein bekanntes Beispiel ist das Tragen eines Hutes: Sobald wir selbst einen Hut tragen, bemerken wir plötzlich überall Menschen mit Hüten. Unser Gehirn filtert und fokussiert Informationen, die mit unseren aktuellen Erfahrungen oder inneren Überzeugungen übereinstimmen. Dieses Prinzip kann dazu führen, dass wir verstärkt das sehen, was unsere Programme bestätigt, und andere Perspektiven ausblenden.

Die Neurowissenschaft: Neuroplastizität und die Veränderbarkeit von Programmen

Eine der bedeutendsten Erkenntnisse der modernen Neurowissenschaft ist die Neuroplastizität: Unser Gehirn kann sich an neue Erfahrungen anpassen und alte Muster überschreiben – selbst solche, die Jahrzehnte alt sind.

Jedes Mal, wenn wir ein Programm aktivieren – sei es durch Denken, Fühlen oder Handeln – stärken wir die neuronalen Verbindungen, die diesem Programm zugrunde liegen. Ebenso können wir jedoch neue Verbindungen schaffen, indem wir bewusst anders denken oder handeln. Mit der Zeit werden diese neuen Verbindungen stärker, während alte, nicht mehr genutzte Muster an Bedeutung verlieren.

Schritte zur Veränderung von Programmen

1. Die Programme erkennen – Unbewusste Muster aufdecken

Das Erkennen alter Programme ist der erste Schritt, um sie zu verändern. Oft arbeiten sie unbewusst, sodass wir uns ihrer nur schwer bewusst werden. Praktische Tipps:

  • Achtsame Selbstbeobachtung: Führe ein Trigger-Tagebuch, in dem du Situationen notierst, die dich blockieren oder stressen. Notiere Gedanken und Gefühle, die in diesen Momenten auftauchen.
  • Körpersignale beachten: Oft zeigen sich Programme in körperlichen Reaktionen wie Anspannung oder Herzrasen. Nimm diese Signale wahr und hinterfrage, ob sie mit einer inneren Überzeugung zusammenhängen.
  • Feedback einholen: Bitte Menschen deines Vertrauens, dir Rückmeldung zu geben. Ihre Perspektive kann helfen, blinde Flecken zu erkennen.

2. Glaubenssätze hinterfragen – Alte Überzeugungen auf den Prüfstand stellen

Sobald ein Glaubenssatz identifiziert ist, gilt es, ihn kritisch zu hinterfragen:

  • Den Glaubenssatz benennen: Formuliere ihn klar und schriftlich, z. B.: „Ich kann das nicht.“
  • Hinterfrage die Gültigkeit: Ist das heute noch wahr? Gibt es Beweise dafür? Was würdest du einem Freund sagen, der das von sich glaubt?
  • Gegenbeispiele sammeln: Notiere Situationen, in denen dieser Satz nicht zutraf. Z. B.: „Ich habe ähnliche Herausforderungen gemeistert.“
  • Neuen Glaubenssatz formulieren: Ersetze die alte Überzeugung durch eine positive Alternative, z. B.: „Ich kann lernen, jede Herausforderung zu meistern.“
  • Den neuen Satz verankern: Wiederhole ihn täglich, schreibe ihn auf oder visualisiere Erfolgssituationen, um ihn zu festigen.

3. Neue Muster etablieren – Alte Programme durch neue ersetzen

Veränderung wird erst nachhaltig, wenn neue Muster aktiv trainiert werden. Hier sind konkrete Ansätze:

  • Kleine Schritte definieren: Starte mit einfachen Verhaltensänderungen, die leicht in den Alltag integrierbar sind. Beispiele:
    • Wenn du Schwierigkeiten hast, öfter „Nein“ zu sagen, beginne mit kleinen Situationen wie: „Nein, ich möchte heute keinen Kaffee“.
    • Wenn du deine Kommunikation verbessern möchtest, übe dich darin, jeden Tag einer Person ein Kompliment zu machen, z. B.: „Ich finde deine Idee wirklich spannend.“
  • Wiederholung und Routine: Verknüpfe neue Gewohnheiten mit bestehenden Routinen, um sie zu automatisieren. Zum Beispiel: Wenn du dir angewöhnen möchtest, täglich Dankbarkeit zu äußern, knüpfe es an eine bestehende Routine wie das Abendessen. Nach dem letzten Bissen könntest du kurz innehalten und drei Dinge benennen, für die du dankbar bist. Oder wenn du mehr Wasser trinken möchtest, stelle ein Glas neben deine Kaffeemaschine und trinke es jedes Mal, bevor du deinen Kaffee genießt. Durch solche Verknüpfungen fällt es leichter, neue Muster zu integrieren.
  • Positiven Fokus verstärken: Feiere kleine Erfolge bewusst und belohne dich für Fortschritte. Beispielsweise kannst du dir nach einem erreichten Ziel eine kleine Auszeit gönnen oder dir etwas Gutes tun, wie ein Lieblingsessen zubereiten. Diese bewusste Anerkennung von Fortschritten motiviert dich, dranzubleiben
  • Visualisierung nutzen: Stelle dir detailliert vor, wie du neue Muster erfolgreich umsetzt. Diese mentale Wiederholung stärkt neuronale Verbindungen. Zum Beispiel: Wenn du daran arbeiten möchtest, selbstbewusster aufzutreten, stelle dir vor, wie du mit aufrechter Haltung und klarer Stimme in einem Meeting sprichst. Sieh die positiven Reaktionen der Zuhörer vor deinem inneren Auge. Oder falls du eine schwierige Aufgabe meistern willst, visualisiere, wie du Schritt für Schritt Fortschritte machst und am Ende stolz das Ergebnis betrachtest. Je lebhafter und konkreter diese inneren Bilder sind, desto effektiver unterstützt du dein Gehirn dabei, neue Muster zu entwickeln.
  • Unterstützung suchen: Erzähle jemandem von deinen Zielen, um dir gegenseitige Motivation und Rückhalt zu schaffen. Suche dir einen vertrauenswürdigen Partner, der dich bei deinen Veränderungen unterstützt, indem er dich regelmäßig nach Fortschritten fragt oder dir ermutigendes Feedback gibt. Du könntest beispielsweise gemeinsam mit einem Freund oder einer Freundin an einer neuen Gewohnheit arbeiten, wie täglich 10 Minuten zu meditieren, und euch gegenseitig über eure Erfahrungen austauschen. Fehler sind dabei kein Grund zum Aufgeben, sondern Lernchancen, die gemeinsam reflektiert werden können.

4. Fehler akzeptieren und weitermachen

Rückfälle in alte Muster sind normal und kein Grund zur Aufgabe. Statt dich zu verurteilen, frage dich:

  • Was hat diesen Rückfall ausgelöst?
  • Was kann ich daraus lernen?
  • Wie kann ich beim nächsten Mal anders reagieren?

Freiheit durch bewusste Steuerung

Unsere Programme wurden nicht über Nacht geschrieben, und sie lassen sich auch nicht sofort überschreiben. Doch die moderne Neurowissenschaft zeigt: Veränderung ist möglich – unabhängig vom Alter. Indem wir uns bewusst mit unseren Programmen auseinandersetzen, gewinnen wir die Freiheit, unser Leben neu zu gestalten.

Das Beispiel des Satzes „Du bist zu klein dafür“ zeigt, wie mächtig frühere Erfahrungen sein können. Sie können uns lenken, ohne dass wir es merken. Doch sie definieren uns nicht. Mit Bewusstheit, Reflexion und gezielter Veränderung können wir alte Glaubensmuster loslassen und neue Wege gehen – hin zu einem selbstbestimmten, erfüllten Leben.

Denn das wahre Potenzial des Menschen liegt nicht darin, von Programmen gesteuert zu werden, sondern darin, sie bewusst zu gestalten.

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